Lucy sagt Lebwohl (2009-2018)

Es ist wieder Oktober und wieder ist mir danach, einen Jahresrückblick zu geben.
2018 ist ein tragisches Jahr gewesen. Die Bordesholmer Linde ist nach fast 700 Jahren zusammengebrochen. Nur nur Stümpfe sind davon übrig, aber neues Leben bricht sich Bahn am alten Stammrest. Es hat eine Zeit gedauert, aber Bordesholm ist zu dem Schluss gekommen, dass selbst eine Linde unsterblich ist und zieht aus diesen Schösslingen einen neuen Baum.
Ich weiß, dass Unsterblichkeit auch gilt für alle Seelen, die hier auf Erden eine körperliche Erfahrung machen, ob Mensch oder Tier.

Dieser Glaube ist dieses Jahr zu meinem Wissen geworden, auf jeden Fall zu einem Trost, denn im Juni, in diesem unglaublichen Jahrhundertsommer mit Sonnenschein, Hitze, kurzen Hosen, Gassigängen am liebsten nur ganz früh oder eben total spät,…in diesem Sommer ist Lucy gestorben.
Es traf uns absolut überraschend und wir haben es lange nicht glauben können.


Lucy hatte schon lange Husten und wir waren deswegen schon zwei Mal zur Untersuchung mit ihr. Sie hustete unter Anstrengung, nach dem Rennen, so als hätte sie sich verschluckt oder ein Stück Holz im Hals, das kratzte. Gefunden wurde nie etwas und so war unklar, was wir denn tun konnten.
In diesem Sommer wurde der Husten schlimmer und Lucy immer kurzatmiger, also fuhren wir nach Wahlstedt in die Tierklinik. Unsere Hoffnung war, dass man dort vielleicht mit mehr Gerät und anderen Methoden nach der Ursache suchen könnte. Zur Untersuchung wurde sie in Narkose gelegt und alles war gut…bis ich sie abholen wollte. Ich stand mit dem Auto vor der Tür und wartete auf das Öffnen der Praxis, als plötzlich der Arzt heraus kam. Lächelnd blickte ich ihm entgegen und fragte ihn, ob sie schon wach wäre und ich sie wieder mitnehmen könnte.
Er sagte zunächst einmal nichts und ich fühlte mich plötzlich wie in diesen Filmen, wo alle wissen, dass jetzt die schlechte Nachricht kommt, nur die Protagonistin noch nicht so richtig. Sie ahnt es, hofft aber noch diesen einen Wimpernschlag lang, dass sie sich vielleicht irren könnte. Und dann kommt dieser Moment, wo sich alles Weitere in ein Davor und ein Danach aufteilt. „Sie ist aufgewacht und alles war gut, aber dann ist ein Lungenflügel kollabiert. Lucy kämpft gerade um ihr Leben“.
Ich erstarrte. Und ich glaube, ich habe gesagt: „Nein! Nicht Lucy, nicht unserer Lucy!“ Der Tierarzt bat mich hinein und führte mich in sein Büro. Dort zeigte er mir auf dem Röntgenbild und in der Endoskopie, dass Lucys Lunge komplett entzündet und mit etwas bewachsen war, wovon man eine Probe genommen hat. Dabei ist alles gut gelaufen, es gab keine Komplikationen. Die ganze Zeit nicht. Ich habe versucht, so gut wie möglich zuzuhören. Die unglaublich vielen Schatten auf ihrer Lunge konnte ich deutlich sehen und bei diesen Bildern wurde auch der Husten klar.
Ich konnte zu ihr, wurde noch gewarnt, dass der Anblick nichts für schwache Nerven sei. Aber das war mir egal, ich wollte zu ihr und sie unterstützen in ihrem Kampf.

Auf dem Behandlungstisch war sie umringt von Helferinnen. Eine hatte eine Spritze in ihre Seite geführt und holte immer wieder Luft aus ihrem Brustkorb. Lucy sah angestrengt aus und bewegte sich kaum. Ich sprach mit ihr, der Arzt erklärte unaufhörlich weiter, zeigte auf Bilder, ich hörte nicht zu, hielt ihre Pfote. Der Lungenflügel richtete sich jedoch nicht wieder auf.
Es gab noch eine Option, ich habe vergessen, welche das war, aber dazu musste sie wieder in den OP. Ich konnte nicht mit und musste draußen warten. Das war der Moment, in dem ich Zeit hatte, Zuhause anzurufen. Katrin war schon vom Tierarzt informiert und ich konnte den Rest erzählen. Bis dahin haben wir noch gehofft, die ganze Zeit. Viele andere Menschen haben Energien geschickt, doch es half alles nichts und ich musste eine Entscheidung treffen.
Wie ich das hasse! Wie unglaublich furchtbar sich das wieder anfühlte. In mir hielt sich die Erwachsene aufrecht, addierte alle Fakten und entschied: Wir müssen Lucy gehen lassen. Ganz ruhig und bedacht, etwas außerhalb von mir. Und in mir auch die verzweifelte, die alles ungeschehen machen wollte, die Zeit zurückspulen, diese Untersuchung, den ganzen Tag, die Entscheidung, hierher zu fahren.
Lucy wurde noch beatmet und versorgt, bis Katrin fast eine Stunde später zu uns kommen konnte. Die Helferin und ich, wir standen in dieser Zeit bei ihr, Lucy lag in Narkose und ich hielt wieder ihre Pfoten, sprach mit ihr, verscheuchte eine aufdringliche Fliege, weinte um sie, um Katrin, um mich…und tue es gerade wieder. Wie gut das tut. Gerade jetzt, während ich das schreibe.
Die eine Stunde war elend lang.
Katrin kam und brach vor lauter Trauer fast zusammen. Ich hatte inzwischen ein paar Stunden Vorsprung, mich in diese Situation einzufinden, irgendwie mit ihr zurechtzukommen, aber sie sah ihre geliebte Lucy zum ersten Mal so. Mehr tot als lebendig. Und ganz kurz vor diesem einen letzten unumkehrbaren, endgültigen Schritt. Wir hielten sie und uns als der Arzt die Überdosis Narkose spritzte. Es brauchte nicht mehr viel, um sie hinüber zu schicken.
Alle Schläuche wurden entfernt, der Arzt hatte sich zum 100. Mal entschuldigt und sagte, dass damit niemand rechnen konnte, dass es nicht an der Untersuchung lag, denn bis dahin war alles gut.
Sie wickelten Lucy in eine schwarze Decke und trugen sie uns zum Auto.
Mit unseren zwei Fahrzeugen mussten wir dann im Konvoi nach Hause fahren, jede von uns war allein in ihrem Auto. Um uns herum ging das Leben einfach weiter. Menschen gingen ihrer Dinge nach, hin und wieder ein anderes Auto. Alles sah aus wie immer und dann auch wieder nicht. Über allem lag für uns ein klagender Ton, eine Strömung in diesem Fluss, der alles diffus unwirklich erscheinen ließ.

Das finde ich in solchen Situationen am erstaunlichsten. Für eine selbst hat sich gerade grundlegend etwas verändert, der Alltag bleibt plötzlich stehen, nichts ist mehr, wie es gerade noch war, ab jetzt wird die Zeitrechnung ein neues Vorher/Nachher haben. Alle tun das, was sie immer tun, aber für eine selbst bleibt die Welt stehen, der Alltag flimmert am Rand der Wahrnehmung und findet ohne eine statt.
Wir haben sie dann gemeinsam im Garten begraben. Die anderen Hunde hatten noch Gelegenheit, sich zu verabschieden. Beide Hunde waren verstört, es wirkte, als müssten sich nun alle neu orientieren, Phönix trauerte tagelang.
Über unser Haus, auf unsere Herzen legte sich für einige Zeit eine dicke, traurige Decke.
Durch die Trauer kann man nicht herum gehen, es ist kein Stein, dem man ausweichen muss und es ist auch kein Berg. Sie mag sich ähnlich fest und hoch anfühlen, aber sie ist es nicht, denn man muss durch sie hindurch gehen
Die Trauer ist eine Landschaft, durch die ein Weg führt, unterbrochen von einem Fluss, über den sich eine Brücke spannt. Natürlich kann man die Brücke nehmen, um auf die andere Seite zu kommen, doch diese Abkürzung zählt nicht. Man muss das eine Ufer verlassen und hinab steigen, durch das Wasser, durch die Tränen. Und erst dann kann man wieder hochsteigen, das Ufer erklimmen, den Fluss der Tränen verlassen.

Wir wissen das, doch wie gerne hätten wir einfach vorgespult in eine andere Zeit, in der das Schlimmste schon vorbei war.

An dem Tag ihrer Beerdigung in unserem Garten saßen wir noch lange bei ihr und haben uns Geschichte über sie erzählt. So waren wir ihr ganz nah, sie lief durch die Geschichten hindurch, bellte ihre Kommentare dazu, rannte wie damals so schnell sie konnte, kroch auf unseren Schoß, ließ sich von uns zudecken.
Und immer wieder konnten wir es nicht verstehen, waren geschockt, verzweifelt. Und dann kam die nächste Geschichte aus unserer Erinnerung. Das war ein großer Trost, aber auch eine neue Erkenntnis, denn Erinnerungen sind immer nur Geschichten, die wir uns selbst erzählen. Es gibt sie nicht, die wahre und einzige Version einer Erinnerung. Wir hätten schwören können, dass unsere Hunde nichts weiter waren als ein zusammengewürfelter Haufen, ohne viel Kontakt zueinander, nur über uns miteinander verbunden. Maggie und Lucy mussten wir sogar voneinander trennen (daran gab es tatsächlich nichts zu rütteln).
Aber wir sahen auf den Fotos auch viele, auf denen die Hunde miteinander lagen, in Kontakt, wie die Vertrauten eines gemeinsamen Lebens, die sie waren.
Wir mussten also unsere Erinnerung korrigieren und auch das war heilsam.

Wir wissen nicht, woran genau Lucy am Ende gestorben ist. Die entnommene Probe haben wir nicht mehr untersuchen lassen. In unserem Verständnis war sie todkrank und hat sich dazu entschlossen, dort betreut zu sterben. Umgeben von Menschen, die ihr helfen wollten, die sie zuletzt unterstützen konnten bei ihrem Übergang. Wie grausam wäre es gewesen, wenn alles das (oder in ähnlicher Form) einfach so auf einem Spaziergang geschehen wäre, nach einem Sprint? Wir hätten ihr nur beim Ersticken zusehen können, das wäre auf ewig schrecklichst gewesen.
Der Klinik machen wir keinen Vorwurf, denn am Ende kommt alles immer so, wie es kommen soll. Offenbar war es Zeit zu gehen für unsere Lucy. Ihre weise Seele wird ihren Grund gehabt haben.
Danke Lucy für dieses Geschenk und danke dafür, dass Du bei uns warst.

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