Fiete hält den Spiegel* vor

Heute früh habe ich in Fietes Impfpass nachgesehen, wie alt er eigentlich jetzt ist, bzw. vermutlich sein kann, denn allzugroßes Vertrauen habe ich nicht in einen Pass eines rumänischen Hundes, dessen erster Eintrag just der Tag der Ausreise ist.

Fiete ist angeblich am 3.3.2009 geboren und damit in Kürze 14 Jahre alt. Sein Fell wird weiß, die Bewegungen steifer, er hat zusehens Mühe, aufzustehen und schläft viel.
Gleichzeitig springt er immer noch blitzschnell auf, rennt zur Tür und bellt die Welt an als würde er ihr kein Morgen gönnen.

Wir haben nach wie vor kein „offenes Haus“, was bedeutet, dass Besuch gut geplant sein will, denn Fiete verbringt die Zeit dann mit einem Stück Rinderkopfhaut im Auto. Unsere Türglocke ist mit einem Schild „Bitte nicht klingeln“ überklebt, denn das spart halsbrecherische Stunts des eben noch im Tiefschlaf befindlichen Hundes die Treppe runter und gegen die Glasscheibe.

Wenn wir spazieren gehen, dann tun wir das immer noch sehr vorausschauend, denn andere Hunde sind immer noch einen Aufreger wert. Doch das ist über die Jahre tatsächlich besser geworden.

Fiete am Treppenabsatz, seinem Beobachtungsplatz

Er läuft an sicheren Orten ohne Maulkorb draußen, denn tatsächlich rastet er zumeist nicht mehr schlimmer aus als irgendein anderer Hund aus der Umgebung, der keine Gesellschaft will. Wir haben ihn an der Leine und die Theorie ist , dass ich ihn aus einer aufgeräumten und starken inneren Haltung heraus sicher durch die Welt führen kann. Klingt super.

Wir sind es ja insgesamt gewohnt, dass man bei einem „Fehlverhalten“ des Hundes allein auf den Hund guckt. Und dass man fortan an der Änderung seines Verhaltens arbeitet, damit er sich wieder einreiht in das Land der Unauffälligkeit. Dafür gibt es zahlreiche Methoden, Erziehungsstile, Hilfsmittel, Leckerchen, Bücher, Hundeschulen,…
Ich kam darauf, als ich mein Auto mal wieder aus Werkstatt holte: würde ich an der Ölwarnlampe herumdoktoren, damit sie endlich aufhört mit ihrem Alarm? Oder würde ich in die Tiefe gehen, an die Ursache der Störung und zum Beispiel Öl nachfüllen?
Was hat das mit Fiete zu tun? Oder mit mir?
Hunde fügen sich maximal in das soziale System ein, in dem sie sich befinden- ob sie es sich nun selbst ausgesucht haben oder ob sie dort hinein-ausgesucht wurden. Sie bringen ihre persönliche Geschichte mit dort hinein und verweben sie mit der, die sie dort vorfinden.

Es gibt Tage, das fühle ich mich selbst kaum in die Welt zu Hause, was sich unmittelbar auf Fiete auswirkt. Und wenn ich es selbst nicht wahrnehmen kann, dann reicht ein Blick auf Fiete, um zu sehen, wie es mir WIRKLICH geht. Das reicht über „zuviel Kaffee getrunken“ bis hin zu unterschwellig in Aufruhr, wenn auch oberflächlich ruhig. Er ist ein Röntgengerät für Stimmungen, ein Seismograph für Inneres, denn er gewinnt Stärke oder auch Schwäche unmittelbar selbst daraus.
Fiete vergewissert sich ständig neu, ob der Mensch an seiner Leine ihn sicher durch die Welt bringt oder er das selbst erledigen muss, obwohl er es nicht kann. Er prüft in jeder Sekunde die Qualität seiner menschlichen Führung, denn in seiner Wahrnehmung hängt sein Leben davon ab. Das tut tatsächlich jeder Hund, aber es gibt Unterschiede darin, wie der jeweilige Hund dann darauf reagiert und mit dem Ergebnis umgeht.
Fiete ist von sirrender Sensibilität- so wie auch jeder Hund- aber er reagiert unmittelbar im Außen darauf, was wiederum nicht jeder Hund so macht. Die meisten gehen einfach ihre Wege, zumeist geräuschlos und ohne besondere Auffälligkeiten.

Und da wären schon gleich bei einem weiteren interessanten Punkt: mein Blick auf die anderen, aber auch der Blick der anderen auf mich, bzw. uns.
Maja Nowak fragte mal eine Hundehalterin:“ Würde dieses Problem auch existieren, wenn du mit deinem Hund ganz allein auf der Welt wärst?“

Und diese antwortete darauf: „Nein, denn dann sieht es ja keiner und mich selbst stört es ja nicht einmal.“

Es ist also der Blick der anderen auf uns, die Missbilligung der anderen, die Scham darüber, „etwas nicht unter Kontrolle zu haben“, die sich hier Bahn bricht. Das erlebte und erlebe ich mit Fiete früher mehr, jetzt immerhin doch weniger.

Die Instanz in mir, die mit dem Blick der anderen ein Problem hat, ist ein alter Anteil, der viel Zeit damit verbringt, es allen recht zu machen, alles immer „richtig“ zu machen, nicht aufzufallen, ein braves Kind zu sein, das nicht wieder beschämt werden will.

Und ein ebenso alter Anteil versucht dann, die mißliche Situation „zu retten“, das Geschehen irgendwie zu bewältigen, aber mit einer Energie, die irgendwo zwischen Wut und Wegrennen wohnt und stets über jedes Ziel hinausschießt. Die ungerecht am Hund herumzerrt, laut wird, hektisch agiert, um dann „mit Sack und Pack“ aus der Szene zu stolpern.

Das fühlt sich für niemanden gut an. Für den Hund nicht, für mich nicht und für den unfreiwilligen Zeugen womöglich auch nicht. Kurze Zeit später ist der Ausbruch vorüber und dieser alte Anteil wieder in der Versenkung verschwunden. Ein anderer Teil übernimmt dann das Ruder, etwas, was erwachsener ist, tief Luft holt, sich bei dem Hund entschuldigt und über mich selbst den Kopf schüttelt. Dieser Teil fühlt sich eher gesund und ruhig an.

Ich habe insgesamt die Erfahrung gemacht, dass dieser gesetzte, ruhige, erwachsene Anteil ihm und mir gut tut. Bleibe ich selbst in dieser Energie, atme ich weiter und bleibe allein bei mir und Fiete, dann beruhigt es auch ihn, dann geht er nicht durch seinen ganzen Alptraumfilm, sondern kommt schnell wieder zurück in das Hier und Jetzt.
Ich weiß das und doch gibt es weiter Momente, in denen auch ich alte Filme abspulen lasse. So wie Fiete.

Wissen alleine ist hier nichts wert, denn was im Kopf ist, erreicht nicht das Gefühl. Und das Gefühl sagt, hier ist etwas berührt, was in Richtung Not oder gar Lebensgefahr geht. Auch wenn das objektiv nicht stimmt, schlägt es subjektiv durch.

Ich nehme mir dann für ein nächstes Mal vor, eine Ecke meines Seins in der Beobachtung zu halten, indem ich versuche, meine eigenen Anteile wahrzunehmen und nicht kopf- und gefühllos die Rolle rückwärts zu starten, sondern genau das tue, was ich auch von Fiete erwartet: im Hier und Jetzt aus der Kraft der Ruhe heraus zu handeln. Es ist das Üben eines veränderten Verhaltens und Wahrnehmung von gerade diesem Moment Welt auch für mich selbst, um aus dieser Ruhe heraus einen Schirm über uns spannen.

Die Beobachterin in mir hat dann alle Hände voll zu tun: Welcher Anteil von mir ist gerade vorne, wer handelt jetzt? Warum? Warum der andere nicht?

Ich bin keine Meisterin darin, aber immerhin doch eine Lernende.

Meine Aufgabe ist es insgesamt, Fiete durch diese Menschen-Welt zu helfen. Er ist ein traumatisierter Hund, der bei dem kleinsten Anlass explodieren kann (siehe auch Update zur Rasse). Angriff ist sein gelerntes Verhalten zur Traumabewältigung. Wenn das nicht hilft, kommt die Erstarrung, dann klinkt er sich aus und dissoziiert sichtbar (bei der Tierärztin zum Beispiel- bis sie ihn anfasst, … ). Und damit ist er Lehrer für mich durch Ähnlichkeit, mein Spiegel im Verhalten, denn ich sehe, dass ich es ähnlich handhabe und durch Fiete die Möglichkeit bekomme, das von einer anderen Warte aus genau zu untersuchen, anzufühlen und im besten Falle auch immer öfter aufzulösen.

Als Kriegsenkel der Boomergeneration gab es viele Gelegenheiten für mich, das eine oder andere Trauma mit ins Gepäck zu bekommen.
Hätte ich einen Hund, der mich einfach nur trägt, der es mir behaglich und bequem in meiner Komfortzone macht, wäre ich damit nicht auf diese Art konfrontiert worden.
Dieses Verständnis bedeutet nicht, dass nur ich allein in meiner Entwicklung zu Fietes SoSein beitrage, aber es bedeutet doch, dass auch ich meine Schritte zu gehen habe, damit ich für Fiete „der tragende Hund“ werden kann.
Es ist ein Prozess, den wir beide in jeweils unserem Tempo gehen.

UPDATE zu Fiete:

In einem Facebook-Vermittlungsangebot zu Herdenschutzhunden (Mirjam Cordt) haben wir neulich ein Bild gesehen von einem Hund, dem Fiete sehr sehr ähnlich sah. Tatsächlich dachten wir, dass der abgebildete Hund ein Verwandter von Fiete sein könnte.
Wir wurden hellhörig, dachten wir doch die letzten Jahre, dass wir einem Schnauzermix bei uns wohnen haben. So wurde er uns von der Tierschutzorga beschrieben.

Die weitere Recherche und das Lesen des Rasseportraits machten jetzt aber (endlich) deutlich, dass wir eher mit einen rumänischen Schäferhundmix zusammenleben, der im Orginal „Ciobanesc Românesc Mioritic” heißt. Das, was dort stand, beschrieb so vieles, was uns im Zusammenleben mit Fiete immer wieder aufgefallen war, womit wir kämpften und was uns forderte:

“Der Ciobanesc Românesc Mioritic verkörpert die typischen Eigenschaften eines gelernten, allseitig einsetzbaren und urtümlichen Hirtenhundes. Er hütet mit größter Beflissenheit seine Herde nach Vorgabe des Hirten und zugleich beschützt er sich als selbständiger Wächter.” (Quelle: https://www.zooroyal.de/magazin/hunde/ciobanesc-romanesc-mioritic/)

Der Ciobanesc Romanesc Mioritic ist ein starker und mutiger Hund, der ursprünglich zur Schafhaltung in den Karpaten verwendet wurde. Er ist sehr effektiv bei der Abwehr von Raubtieren und ein hervorragender Herdenschutzhund. Allerdings kann seine Tendenz, Fremden gegenüber misstrauisch zu sein, in einer dicht besiedelten Umgebung wie Mitteleuropa Probleme verursachen.Daher wird empfohlen, dass er von erfahrenen Hundehaltern gehalten wird und nicht in städtischen Gebieten. Obwohl der Hund laut Standard freundlich Kindern gegenüber sein soll, wird er nicht leicht als Familienhund empfohlen.

Sein Verhältnis zu seiner Familie und zu anderen Lebewesen fasst dieser Ausschnitt gut zusammen:
”Daheim zeigt sich der kräftige Vierbeiner ruhig, ausgeglichen und gemütlich. Er schlummert gerne vor sich hin. Jedoch sollte man sich vor dem stillen Erscheinungsbild nicht täuschen lassen. Ein Mioritic ist immer wachsam und zur Verteidigung bereit – auch im schlummernden Zustand. Seinem Besitzer sowie auch seinem restlichen Familienrudel ist der Hund treu ergeben. Fremden Menschen gegenüber ist er misstrauisch. Auch verträgt er sich mit anderen Hunderassen nicht gut. Seinen inneren Unmut macht ein Mioritic durch tiefes Bellen deutlich. (Quelle: https://www.edogs.de/magazin/hunderassen/mioritic/)

Wir würden aus Erfahrung noch ein Stück weiter gehen:

  • fremde Menschen haben bei uns nicht zu suchen und Ausnahmen gibt es nicht
  • andere Hunde sind Frühstück, Mittag oder Abendbrot- je nachdem, wie groß der Abstand ist und wann man sie trifft
  • er ist blitzschnell, wenn er eine Aufgabe zu erledigen hat (Igel in der Hecke, Passanten, die aus dem Hauseingang den Gehweg betreten)

Während Familienhunde (wie Schnauzer) in der Regel darauf ausgelegt sind , mit Menschen zusammenzuleben und zu interagieren, sind Herdenschutzhunde dafür ausgebildet , Schafherden oder andere Tiere selbständig zu schützen und zu bewachen.

Das sind unterschiedliche Ausprägungen im Wesen des Hundes mit anderen Konsequenzen im Zusammenleben.

Die Natur des Herdenschutzhundes in Fiete

Es ist unklar, welche weiteren Anteile anderer Hunde Fiete noch in sich trägt, aber rückblickend lässt sich feststellen, dass er nur jeden Tag seinen Job als Herdenschutzhund erledigt, weil es seine Natur ist. Er hat ein Dauerabo auf den “Mitarbeiter des Monats”, denn er hält uns verlässlich die Welt vom Lappen. Aus Bären sind nun Lieferwagen geworden, jeder Mann (außer Jens mit den Leckerlies) ist ein Wolf, jedes Geräusch (Böller!!!) ein Angriff auf seine Herde.

Ein paar Umwege hätten wir uns sparen können, wenn uns das vorher klar gewesen wäre. Aber warum die Fachkenntnis einer Tierschutzorganisation hinterfragen?

In diesem Jahr steht Fiete kurz vor seinem (vermutlich) 14. Geburtstag. Er bekommt ebenso wie Phönix Medikamente, die ihm den Arthroseschmerz erträglich machen. An manchen Tagen kommt er nicht mehr mit auf die längeren Spaziergänge, die auch nur noch 40 min dauern. Seine Augen sind nicht mehr so klar, wie sie mal waren und sein Fell im Gesicht ist nahezu weiß geworden. Er ist alt.

Unsere gemeinsame Zeit neigt sich dem Ende und ich hoffe sehr, dass wir dieses Mal nicht die Entscheidung treffen müssen, sondern unser kluger Fiete sie für sich selbst treffen wird. Aber bitte noch nicht so bald…


*Auch wieder großer Dank gebührt Maike Maja Nowak, die grundsätzlich die Impulse für diese Betrachtungsweise in ihrem Onlineseminar „Der Hund als Spiegel“ gab.

2 Antworten

  1. Sabine sagt:

    Liebe Frau Brzakala,
    bei uns lebt seit ca. 1,5 Jahren eine Mioritic(-Mix)-Hündin aus Rumänien. Käthe ist ihr Name. Vermittelt wurde sie uns seinerzeit als „normaler“ Mischling…
    Bei meiner Recherche zum Thema HSH bin ich auf Ihren Beitrag gestoßen. Ihre Zeilen haben mich zutiefst berührt. Mir sind tatsächlich die Tränen gekommen. Ich habe mich (und Käthe) so sehr wiedergefunden in Ihren Zeilen. Danke, dass Sie Ihre Erfahrungen und Gefühle geteilt haben. Alles Gute für Sie (und Fiete, falls er noch auf dieser Erde wandelt)!
    Sabine

    • Maike Brzakala sagt:

      Liebe Sabine, ja, Fiete ist noch bei uns und ist inzwischen 15 Jahre alt. Inzwischen läuft er sogar ohne Maulkorb, aber Sicherheitsabstand zu anderen Gruseligkeiten brauchen wir immer noch. Er ist seit Ende 2023 komplett taub, was zu unserem ruhigsten Silvester seit über einem Jahrzehnt führte:-) Wir lieben und schätzen ihn sehr und haben so unsagbar viel mit ihm gelernt! Doch er es war gerade zu Anfang, die ersten Jahre, ein wirklich harter und steiniger Weg, aber er war es wert. Ihnen und Käthe wünsche ich eine ähnliche Erfahrung.
      Alles Liebe und Gute für Sie!

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